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20 Jahre MSC-Zertifizierung: Als kommerzieller Fischfang endlich nachhaltiger wurde

Stefanie Kirse, Leiterin des MSC für den deutschsprachigen Raum, zieht im Interview Bilanz: 

Die MSC-Zertifizierung von Fischereien blickt seit vergangenem Jahr auf eine 20jährige Geschichte zurück. Im Jahr 2000 wurde mit einer australischen Langustenfischerei die erste Fischerei überhaupt mit einem MSC-Zertifikat für nachhaltigen Fischfang ausgezeichnet. Im selben Jahr kam in Europa das erste Produkt mit einem MSC-Zertifikat für nachhaltigen Fischfang auf den Markt - und zwar bei der Schweizer Detailhandelskette MIGROS. Heute können VerbraucherInnen in Europa aus knapp 15.000 Produkten mit MSC-Siegel wählen. Rund 4600 davon in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Da liegt die Frage nahe: Wo steht der Marine Stewardship Council (MSC) heute und wo will er hin?

Die weltweite Nachfrage nach Fisch und Meeresfrüchten steigt kontinuierlich – die Zahl der überfischten Bestände leider auch. Der MSC ist mit dem Auftrag gestartet, die Fischerei in aller Welt in nachhaltige Bahnen zu lenken. Wo sieht der MSC seine Erfolge, angesichts der prekärer werdenden Lage in weiten Teilen unserer Meere? Das MSC-Siegel ist hierzulande praktisch allgegenwärtig. Kann ein so umfangreiches Angebot überhaupt noch nachhaltig sein – oder ist das MSC-Siegel mehr Schein als Sein? Was entgegnet der MSC seinen Kritikern?  

Stefanie Kirse, Leiterin des MSC für den deutschsprachigen Raum, beantwortet diese und weitere interessante Fragen untenstehend.

Wie sieht die Bilanz nach 20 Jahren MSC-Zertifizierung aus und wo sieht der MSC seinen größten Erfolg?

Über 400 Fischereien in 52 Ländern rund um den Globus dürfen heute ihren Fang mit MSC-Siegel kennzeichnen, weitere 89 befinden sich gerade im Bewertungsprozess. Mehr als 45.000 Unternehmen weltweit haben MSC-zertifizierten Fisch und Meeresfrüchte in ihr Angebot aufgenommen und VerbraucherInnen rund um den Globus können aus über 19.000 Produkten mit MSC-Siegel wählen. Weltweiter Spitzenreiter im Angebot MSC-zertifizierter Produkte ist Deutschland.

Den größten Erfolg sehe ich jedoch darin, dass die Arbeit des MSC spürbare Spuren hinterlässt, und zwar in und auf unseren Meeren. Entscheidend ist: Wir können unsere Erfolge belegen! Seit der ersten Zertifizierung einer Fischerei im Jahr 2000 haben MSC-zertifizierte Fischereien über 1.700 messbare Verbesserungen auf und in unseren Meeren bewirkt: Schutz von Seevögeln und sensiblen Lebensräumen, weniger Beifang, mehr Forschung, mehr Schutzgebiete, bessere Kontrollen und effektiveres Management. Hinzu kommen all jene Verbesserungen, die Fischereien schon im Vorfeld ihres Bewertungsprozesses umgesetzt haben, um überhaupt eine Chance auf eine erfolgreiche Zertifizierung zu haben.

Neben diesen Wirkungen in den Meeren hat der MSC maßgeblich zu einem Umdenken hin zu mehr Nachhaltigkeit nicht nur bei Fischereien, sondern auch bei Verbrauchern, Herstellern und dem Handel beigetragen.

Das MSC-Siegel ist heute in den Supermärkten praktisch allgegenwärtig – auf Dosen, Gläsern, TK-Packungen und auch in der Frischfischtheke. Kann ein so großes Angebot denn überhaupt noch nachhaltig sein?

Deutschland ist erfreulicherweise absoluter Spitzenreiter, wenn es um Fischprodukte aus MSC-zertifizierter nachhaltiger Fischerei geht.

Warum ist das so? Zum einen konzentriert sich der Fischkonsum der VerbraucherInnen in Deutschland auf wenige Arten, die gleichzeitig in großen Mengen zertifiziert verfügbar sind. Alaska-Seelachs, welcher für Produkte wie Fischstäbchen und Schlemmerfilets verwendet wird, ist beispielsweise die größte Fischerei im MSC-Programm. Auch beim Thunfisch gibt es ein zunehmend größeres nachhaltiges Angebot. Das erleichtert dem Handel, Verbrauchern MSC-zertifizierte Produkte anzubieten. Ganz anders sieht das auf wichtigen Fischmärkten in den USA, Asien oder auch schon in anderen EU-Ländern aus, wo das Fischangebot viel diversifizierter ist. Dort gibt es noch verhältnismäßig wenige Produkte mit dem MSC-Siegel.

Auch wenn VerbraucherInnen in Deutschland den Eindruck gewinnen können, das MSC-Siegel sei auf fast allen Fischprodukten zu finden, sieht die globale Realität leider anders aus, denn bislang sind nur 15 Prozent der globalen Fangmenge MSC-zertifiziert. Der MSC ist quasi ein Scheinriese. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit eines nachhaltigen Fischkonsums ist global betrachtet immer noch gering, und es bleibt noch immens viel zu tun.

Der weltweite Pro-Kopf-Fischkonsum hat mit 20,5 Kilogramm pro Jahr einen neuen Rekord erreicht. Die Weltbevölkerung wächst, die Nachfrage nach Fisch und Meeresfrüchten steigt kontinuierlich – die Zahl der überfischten Bestände ebenso. Derzeit gelten laut FAO mehr als ein Drittel der weltweiten Fischbestände als überfischt. Verfehlen die mehr als 20-jährigen Bemühungen des MSC ihre Wirkung?

Es ist sehr besorgniserregend, dass der Anteil der überfischten Bestände weiter steigt.  Der diesjährige FAO-Bericht “State of World Fisheries and Aquaculture” erwähnt aber auch ermutigende Entwicklungen: 78,7 Prozent aller angelandeten Fische stammen aus gesunden Beständen.

Das MSC-Programm hat in den vergangenen 20 Jahren gezeigt, dass strenge Nachhaltigkeitskriterien, eine unabhängige Zertifizierung und ein marktbasierter Ansatz zu messbaren Verbesserungen in den Meeren führen. Auch die Zahlen der FAO verdeutlichen, dass bei Arten, bei denen ein wirksames Management umgesetzt wurde, sich Verbesserungen bei der Bestandserholung zeigen. Das ist insbesondere auf der Nordhalbkugel zu beobachten. Der Abwärtstrend in den Meeren der Südhalbkugel ist noch nicht gestoppt. Gerade hier ist es daher wichtig, Bestände wieder aufzubauen und nachhaltig zu befischen. Daher liegt ein Schwerpunkt unserer Arbeit in den kommenden Jahren auf der Unterstützung von Fischereien aus diesen Regionen

Der MSC möchte die Fischerei in nachhaltige Bahnen lenken, aber er ist kein Allheilmittel. Unsere Arbeit fußt auf der Tatsache, dass staatliche Maßnahmen – wie z. B. Gesetze, adäquate Kontrollen etc. – zurzeit nicht ausreichen, um die Überfischung der Meere aufzuhalten, und dass ein wirtschaftlicher Anreiz ein wirkungsvoller Hebel für mehr Nachhaltigkeit ist. MSC-zertifizierte Fischereien haben bereits beachtliche Verbesserungen für unsere Meere und Fischbestände erwirkt. Dass heute rund 15 Prozent der weltweiten marinen Fangmenge MSC-zertifiziert sind, sehen wir als einen großen Erfolg. Es zeigt aber auch, dass es noch viel zu tun gibt.

Haben sich die Herausforderungen und Kernaufgaben verändert, vor denen der MSC heute – 20 Jahre nach der ersten Fischereizertifizierung – steht?

In den Anfangsjahren lag der Schwerpunkt unserer Arbeit im Aufbau eines Marktes für nachhaltige Fischprodukte, sowohl auf Seiten der Produzenten (Fischereien), als auch auf Abnehmerseite (Verarbeitung & Handel). Um die Glaubwürdigkeit des MSC für die kommenden 20 Jahre zu erhalten, muss der MSC sich dynamisch weiterentwickeln. Es gilt, die MSC-Anforderungen für nachhaltige Fischerei weiter zu entwickeln, um sie auf dem Stand der besten wissenschaftlichen Praxis zu halten. Außerdem ist es unsere Aufgabe, unsere Strukturen und Prozesse so weiterzuentwickeln, dass mehr Fischereien, insbesondere aus dem globalen Süden, am MSC-Programm teilhaben können. Fischereien in Entwicklungsländern, vor allem kleinere Fischereien, stehen in Bezug auf eine Nachhaltigkeitszertifizierung vor besonderen Herausforderungen: ein Mangel an empirischen Daten z.B. über die befischten Bestände, institutionelle Schwächen und finanzielle Beschränkungen. Genau diese Fischereien unterstützt der MSC mit Nachhaltigkeits-Knowhow, dem Aufbau von Partnerschaften und im Rahmen von Projekten auch finanziell. Diese sogenannten „Pathway to Sustainability“-Projekte werden gemeinsam mit einer Vielzahl von Interessenvertretern – NGOs, Regierungsvertreter, Wissenschaftler, Unternehmen der Lieferkette und Gebern – umgesetzt.

Unser Ziel ist also nicht mehr nur die Zertifizierung von Fischereien, sondern auch, Fischereien auf ihrem Weg zu mehr Nachhaltigkeit zu unterstützen. Fischereien entscheiden letzten Endes selbst, ob Sie sich zertifizieren lassen.

Einige NGOs bemängeln, dass die MSC-Kriterien zu lasch und die Messlatte für Nachhaltigkeit in der Fischerei zu niedrig angesetzt seien. Warum ist der MSC im Sinne der Nachhaltigkeit nicht strenger?

Die Herausforderung liegt darin, die Anforderungen an nachhaltigen Fischfang zugleich wirksam und erfüllbar zu gestalten. Sind die Kriterien eines Standards so anspruchsvoll, dass keine Fischerei sie anwendet, kann auch der beste Standard keine Veränderung erwirken. Sind sie zu anspruchslos, bleibt die Wirkung in und auf unseren Meeren ebenfalls aus. Nachhaltige Fischerei ist ein sehr komplexes Thema. Es gibt unterschiedliche Einstellungen dazu, was darunter zu verstehen ist. Und wo die Messlatte für eine nachhaltige Fischerei angelegt werden sollte, wird heftig debattiert. Viele Meinungsverschiedenheiten liegen in unterschiedlichen Wertvorstellungen und Ansichten begründet, was nachhaltige Fischerei beinhalten muss. Das Ziel des MSC ist die Nutzung mariner Ressourcen unter Einhaltung strenger Nachhaltigkeitsanforderungen. Dadurch unterscheidet sich unsere Herangehensweise zum Teil grundlegend von anderen Umweltorganisationen, die den reinen Schutzgedanken der Ressource in den Vordergrund stellen.

Das Ringen um die Balance zwischen Schutz und Nutzung wird immer zum Wesen des MSC gehören. Der MSC ist seit jeher eine Organisation, die verschiedene Interessengruppen vereint. Wir arbeiten mit Umweltorganisationen, Wissenschaftlern und Regierungen, mit der Fischereiindustrie und mit dem Handel zusammen, deren Interessen wir gleichermaßen vertreten. Anregungen und Einwände dieser Interessengruppen sind an vielen Stellen – ob im Kontext eines konkreten Fischereizertifizierungsprozesses oder bei der turnusmäßigen Überarbeitung unseres Umweltstandards – ausdrücklich vorgesehen und erwünscht. Es ist nicht einfach, hier das richtige Gleichgewicht zu finden. Indem der MSC den notwendigen Kompromiss zwischen diesen verschiedenen Interessen sucht, öffnet er sich der Kritik. Wir tun dies, weil wir davon überzeugt sind, dass wir nur dann wirkliche Veränderungen vorantreiben können, wenn sich so viele und so unterschiedliche Interessenvertreter wie möglich an der Debatte beteiligen, und wir uns diese Diskussionen zu eigen machen.

Wie lautet Ihr Appell an die Kritiker?

Der MSC-Standard ist der weltweit strengste Standard für nachhaltige Fischerei, und das soll er auch bleiben. Wir überprüfen ständig, wie unser Zertifizierungsprogramm verbessert werden kann, und begrüßen dabei die konstruktive Kritik von allen Interessenvertretern. Die Forderungen und Kritik der NGOs haben bereits zu vielen wichtigen Änderungen des MSC-Standards beigetragen.

Wir wünschen uns allerdings eine sachliche und differenzierte Auseinandersetzung, denn eine undifferenzierte Debatte führt letztlich nur zu resignierten VerbraucherInnen, die im Zweifelsfall zu konventioneller Ware greifen und so mit ihrer Kaufentscheidung unwissentlich jene Produzenten „bestrafen“, die in umweltverträglichere Praktiken investiert haben. Wenn hier alle – auch die kritischen – Umweltinteressierten stärker an einem Strang ziehen würden, wäre insgesamt mehr erreicht und den Meeren mehr geholfen.

Unser Appell geht aber auch dahin, gleichzeitig einen Schritt zurück zu treten und das Gesamtbild zu betrachten. Die nicht MSC-zertifizierten Fischereien, die 85 Prozent der weltweiten Fangmenge verantworten, weisen sicherlich sehr viel mehr Verbesserungspotential auf und sollten daher im Fokus der Umweltorganisationen und Teil einer kritischen Auseinandersetzung in der Berichterstattung sein.

Was sind die Ziele des MSC für die nächsten 20 Jahre?

Unser wichtigstes Ziel gilt auch in Zukunft: Fischereien rund um den Erdball in nachhaltigere Bahnen zu lenken, um der Überfischung wirksam etwas entgegenzusetzen. Rund 60 Prozent der weltweiten Gesamtfangmenge an Fisch und Meeresfrüchten werden im globalen Süden gefangen. Das Gros der MSC-zertifizierten nachhaltigen Fischereien ist in europäischen und nordamerikanischen Gewässern anzutreffen. Der MSC arbeitet daher mit verschiedenen Initiativen daran, sein Programm perspektivisch auch mehr Fischereien im globalen Süden zugänglich zu machen – auch wenn diese zumeist klein und handwerklich sind und mit Problemen zu kämpfen haben, die eine Zertifizierung schwierig machen: ineffektives Fischereimanagement, wenig staatliche Unterstützung, unzureichende Daten und finanzielle Ressourcen.

Und es reicht nicht, nur neue Fischereien mit ins Boot zu holen, sie müssen auch langfristig nachhaltig fischen. Seit der ersten Fischereizertifizierung im Jahr 2000 haben 16 Prozent der Fischereien ihr Zertifikat wieder verloren, weil sie ihren Auflagen nicht nachgekommen sind und / oder die MSC-Kriterien nicht mehr erfüllen konnten. Einzelne Fischereien betreiben einen enormen Aufwand, ihre Nachhaltigkeit zu verbessern. Doch allein können sie es oft nicht schaffen. Weit wandernde Fischarten, wie z. B. der atlanto-skandische Hering und der Thunfisch, achten nicht auf Landesgrenzen. Wir setzen uns daher für internationale Vereinbarungen ein, die Ökosysteme als Ganzes und entlang wissenschaftlicher Richtlinien managen, anstatt die Fischerei lediglich national zu verwalten. Wir wünschen uns, dass alle  – Regierungsbehörden, Fischereien, Märkte – noch stärker an einem Strang ziehen. Seit mehr als 20 Jahren bereits bringt der MSC diese verschiedenen Lager zusammen, und wir werden diesen holistischen Ansatz auch in Zukunft vehement verfolgen.